Soziale Verantwortung als Kursthema – warum das?

In diesem Text versuche ich eine erste Annäherung an den Begriff „Soziale Verantwortung“. Wir werden uns der Frage, was dieser Begriff für uns heute bedeutet und wie er in Bezug auf die Yoga Sutren hinterfragt werden kann, im Herbst-Yogakurs 2020 an zehn Abenden widmen.

 

Nachdenkliche Impulse für die Yogapraxis

Ich beginne meinen Yogaunterricht in den Fortgeschrittenengruppen seit vielen Jahren mit einleitenden, nachdenklichen Impulsen. Es handelt sich dabei um ca. fünf- bis zehnminütige Kurzvorträge, quasi Gedankenhäppchen in homöopathischen Dosierungen.

Der Fundus, aus dem wir uns gemeinsam inspirieren lassen, ist dabei sehr vielfältig und geht über die Yoga-Literatur hinaus. Oft ist es ein Buch, das wir uns gemeinsam erarbeiten, und da war auch schon mal „Momo“ von Michael Ende dabei. Oder wir besprechen Begriffe aus der Yoga-Philosophie. Und natürlich sind es auch Texte von Weisheitslehrer*nnen, die ich aufgreife. Zweimal haben wir uns schon mit David Steindl Rast und seinem wichtigen Werk zur Meditation „Fülle und Nichts“ beschäftigt. Auch inspirierende Persönlichkeiten wie Mahatma Gandhi oder Viktor E. Frankl haben uns schon mit ihren Ideen durch Kurse geleitet.

Diesmal geht es um den Begriff „Soziale Verantwortung“, der im 19. Jh. durch die damals starken gesellschaftspolitischen Veränderungen erst so richtig an Bedeutung gewonnen hat und sich jetzt im 21. Jh. zu einer zentralen moralischen Kategorie entwickelt. Ob es um die Rettung des ökologischen Gleichgewichts, um Ressourcenverteilung oder um faire Lebensbedingungen für alle Erdenbürger geht, zunehmend wird die Verantwortung auch im persönlichen Engagement jedes einzelnen sichtbar.

Warum ausgerechnet dieses Thema?

Ich bin als Referentin für den Jahreskongress des Deutschen Yogalehrerverbandes BDY eingeladen worden. Dieser soll Anfang Juni 2021 stattfinden und hat sich dem Thema „Yoga und soziale Verantwortung“ verschrieben. Ich nehme mir daher ein Jahr Vorlaufzeit, um mich einzulesen, aber auch, um gemeinsam mit meinen Schüler/innen weiterzudenken und zu üben. Denn erfahrungsgemäß macht es Sinn, wie schon oben erwähnt, in kleinen Dosierungen weiterzudenken. Es ist das Gegenteil jener Methode, mir Wissen zu erarbeiten, wenn ich alleine in meinem Stübchen sitze. Da verschlinge ich die Bücher im Eilzugstempo.

Wir werden den Begriff „Soziale Verantwortung“ in Verbindung mit den ethischen Handlungsanleitungen der Yamas und Niyamas aus den Yogasutren besprechen. Ich bin überzeugt davon, dass es in diesem Kontext Sinn macht, auf diese uralte Yogaweisheit zurückzugreifen, sofern man sie etwas entstaubt und eine zeitgemäße Interpretation erlaubt ist. Wozu sollten denn auch ethische bzw. moralische Prinzipien dienlich sein, wenn sie nicht an unsere Bedürfnisse und Probleme angepasst werden könnten? Alles andere empfinde ich als Yogafolklore und Zeitverschwendung.

Was versteht man jetzt unter „Sozialer Verantwortung“?

Der Begriff „Soziale Verantwortung“ ist relativ jung und hat in den letzten 200 Jahren schon verschiedene Deutungswandel erlebt. Außerdem wird er je nach wissenschaftlicher Disziplin unterschiedlich gefasst.

Unternehmen, die sich für Gesellschaft und Umwelt einsetzen, erzielen bei sonst gleichen Bedingungen deutlich höhere Unternehmensbewertungen und Margen. Das zeigt eine Studie der Boston Consulting Group (BCG).

https://csr-news.net/news/2017/11/17/soziales-und-oekologisches-engagement-zahlt-sich-aus/

Bemühe ich die bekannteste Suchmaschine im Internet, so poppen vor allem Websites auf, die sich mit der Verantwortungsvariante CSR (Corporate Social Responsability) beschäftigen. Damit meint man die Übernahme von sozialer Verantwortung durch Unternehmen, kleine wie große. Prinzipiell erfreulich, dass es diese Ambitionen gibt, könnte man meinen, denn nach wie vor ist dies keine Selbstverständlichkeit angesichts der großen ökologischen Probleme, die wir vergegenwärtigen. Die Frage, wie redlich dies gemeint ist oder ob auch viel Schönfärberei bzw. Public Relation dahintersteckt, ist müßig. Moderne Unternehmen erwarten sich durch CSR bessere Unternehmensbewertungen, motiviertere Mitarbeiter/innen und ganz allgemein ein besseres Image für ihre Produkte und somit auch entsprechende Umsätze. CSR ist längst Teil eines professionellen Auftritts von (zumindest) großen internationalen Unternehmen. Und passend dazu findet man auch ein Riesenangebot an Ausbildungen zum/zur CSR-Manager/in, auch in Österreich. Diese Ausbildungen gehen oft einher mit Begriffen wie Nachhaltigkeit und Ressourcenmanagement.

CSR ist allerdings nicht das, wonach ich suche. Denn ich möchte mich ja mit der individuellen Übernahme von Verantwortung beschäftigen. Das, was jede/r einzelne von uns tun könnte. Ich tippe versuchsweise die Buchstabenfolge PSR in die Suchmaschine ein, auf der Suche nach so etwas wie personal social responsability oder private social responsability. Diese Begriffe kursieren sogar, man muss aber sehr lange nach ihnen suchen. Der Begriff PSR ist klarerweise nicht so finanzkräftig und PR-wirksam wie CSR. Obwohl es auch hier durchaus um beträchtliche Summen geht. Man denke an Fundraising-Spezialisten, die Sponsoren suchen, welche ihrerseits wiederum ihr Sponsoring abschreiben möchten. Mir fallen auch die unzähligen ehrenamtlich Tätigen in Österreich ein, die unbezahlt Dienstleistungen erbringen, welche andernfalls von ihren Organisationen oder dem Staat bezahlt werden müssten. Diese „Freiwilligen“ sind inzwischen eine derart wichtige Personengruppe geworden, dass man bereits eigene Ausbildungen erfunden hat, um Ehrenamtliche zu finden, zu fördern und zu motivieren: das sogenannte „Freiwilligenmanagement“.

Ehrenamtliche tätige Menschen sind also eine stark umworbene Personengruppe und können zwischen verschiedensten Angeboten wählen. Diese Links sind nur eine kleine Auswahl:

http://www.freiwilligenweb.at/
https://ehrenamtsboerse.at/
https://www.ngojobs.eu/aktiv-werden-ehrenamtliches-engagement-in-oesterreich/
https://www.alpenverein.at/portal/berg-aktiv/freiwilligenarbeit/index.php
https://www.fundraising.at/initiativen/zeitspenden/

Wir nähern uns also verschiedenen Definitionen von ehrenamtlichem Engagement. Auf der Website der Volkshilfe kann man zB lesen:
https://www.volkshilfe.at/fileadmin/user_upload/Media_Library/PDFs/Sonstiges/4_Faktensammlung.pdf

Der Begriff „freiwilliges Engagement“ fasst zusammen, was nicht nur im Alltagsgebrauch, sondern auch in der wissenschaftlichen Forschung sehr unterschiedlich bezeichnet wird: Freiwilligenarbeit, Ehrenamt, Freiwilligentätigkeiten, bürgerschaftliches Engagement, zivilgesellschaftliches Engagement etc. Ein einheitsstiftender und allen Sachverhalten angemessener, repräsentierender Begriff existiert nicht.

Reset.org ist eine Plattform, die vor allem ökologisches Engagement und neue Initiativen sichtbar machen möchte. Dort treffe ich auf den Begriff „bürgerschaftliches Engagement“. In dieser Definition findet sich auch das Wort Verantwortung und es wird angedeutet, dass man diese durchaus selbstbewusst übernehmen kann. Das spricht mich an: „eine selbstbewusste Form“.

https://reset.org/knowledge/verantwortung-uebernehmen-buergerschaftliches-engagement

Bürgerschaftliches Engagement, auch „Freiwilligenarbeit”, „politisches oder soziales Engagement“ genannt, beruht auf dem Prinzip der freiwilligen (Hilfe-)Leistung ohne Erwartung einer Gegenleistung. Bürgerschaftliches Engagement kann in einer Umweltschutz, Menschenrechts- oder anderen karitativen Organisation, aber auch bei Privatpersonen geleistet werden und bedeutet einen konkreten, praktischen Einsatz von Zeit, Geld oder Sachmitteln für die gemeinsamen Ziele. An erster Stelle ist bürgerschaftliches Engagement jedoch eine selbstbewusste Form, für die Gestaltung von Gesellschaft Verantwortung zu übernehmen. 

Halten wir als erstes Zwischenergebnis fest: Der Begriff Soziale Verantwortung wird im zivilgesellschaftlichen Engagement (vor allem) als Freiwilligenarbeit verstanden. (Merke den Unterschied: für CSR-Management im Unternehmensbereich wird bezahlt). Freiwillige sind eine stark umworbene Personengruppe, also gesellschaftspolitisch von großer Bedeutung. Sie übernehmen Verantwortung für soziale Tätigkeiten, vor allem in Hilfs- und Blaulichtorganisationen, aber auch dort, wo Staats- und Unternehmensversagen erkennbar werden, zB im Flüchtlings- oder Umweltbereich. Das Engagement kann innerhalb von bestehenden Organisationen, aber auch in Einzelinitiativen erfolgen.

Ganz zufrieden bin ich noch nicht. Es hilft mir beim Weiterdenken, wenn ich nun zwischen systemerhaltendem und systemveränderndem sozialen Engagement unterscheide. Dabei möchte ich betonen, dass ich großen Respekt für alle Engagierten gleichermaßen aufbringe. Große traditionsreiche Organisationen wie Rotes Kreuz, die Feuerwehr oder Bergvereine erbringen Dienstleistungen, die unser Sozialsystem am Laufen halten, für Sicherheit sorgen oder Erholungsgebiete begehbar machen. Ich bezeichne das versuchsweise erstmal als sytemerhaltendes Engagement. Sie engagieren sich tw. aber auch in Bereichen, die systemverändernd wirken, zB wenn sie sich für Themen wie Klimawandel oder Flüchtlingsbewegungen einsetzen.

Relativ junge Bewegungen wollen vor allem systemverändernden Einfluss bekommen, wie zB Aktivisten aus Umweltbewegungen oder der Gemeinwohlökonomie, und jetzt relativ neu Aktivisten von Bewegungen wie „Black-lives-matter“, „Fridays for Future“ oder LGBT-Arbeit.

Das scheint mir noch bedeutsam für die weitere Definition von sozialer Verantwortung als moralischer Kategorie und im Kontext von Yoga:

Wer soziale Verantwortung übernimmt (systemerhaltend oder -verändernd),

  1. hat die Vision einer besseren und gerechteren Zukunft vor Augen,
  2. übt sich in Verzicht (in Form von Freizeit und/oder Geld)
  3. und ist mitfühlend gegenüber Menschen, Tieren und dem Ökosystem. Dieses Mitgefühl und der tiefe Respekt vor der Natur stärken die Verbundenheit und überwinden das Trennende.


Abschließend noch ein Gedankenexperiment

Obwohl also sehr viele Menschen soziale Verantwortung übernehmen, ist zu vermuten, dass sie nicht alle von der gleichen Vision inspiriert sind. Oder doch? Versuchen wir ein Beispiel:

Was haben tüchtige Feuerwehrleute aus einer Landgemeinde (Anm.: in Städten gibt es meistens eine Berufsfeuerwehr) mit Aktivisten der Flüchtlingsnotrettung im Mittelmeer gemeinsam? Beide Gruppen retten auf dramatische Weise Menschenleben. Das verbindet sie. Was würde passieren, wenn wir sie alle an einem Stammtisch zusammenbrächten? Würden sie sich verstehen und sich bei den aufregenden Schilderungen respektvoll zuhören? Oder würden sie sich aufgrund ihrer eventuell unterschiedlichen politischen Meinungen hoffnungslos zerstreiten? Ein Treffen wäre jedenfalls einen Versuch wert. Und wäre es nicht eigentlich eine noble Aufgabe, bei dieser Gelegenheit auch gleich eine gemeinsame Vision für eine bessere Welt zu erarbeiten?