Die Sinne auf den Tag einstimmen – eine Wintersonnenmeditation

Die Sinne auf den Tag einstimmen – eine Wintersonnenmeditation

Sonntagvormittag – viel Zeit für Asanapraxis, dann kapalabhati, nadi shodhana und abschließend noch stilles Verweilen auf dem Polster. Doch was hilft mir jetzt beim stillen Sitzen? Wie kann ich den Fokus halten und mich klar ausrichten (dharana *), was macht für mich in diesem Moment Sinn?

Die ersten Sonnenstrahlen brechen gerade, von Osten kommend, durch die Bäume in meinen Garten, verwandeln Blätter in Lichtpunkte, erreichen mein Pfenningbäumchen im Wohnzimmer neben mir auf dem Glastischchen, erreichen mich und meine Augen – was für eine Wohltat! Es ist eine morgendliche Wintersonne, die immer wieder von Wolken eingetrübt wird. Doch kämpft sie sich wieder aus dem Wolkenmeer heraus, spüre ich sie auf meinem Gesicht. Sei willkommen, immer wieder! Ich bin dankbar über diese Momente der Wärme und über die Schönheit dieses Wintermorgens, wenn ich in meinen Garten blicke. Ich spüre, nicht nur meine Augen freuen sich, auch meine Schultern. Ich möchte diese Szene nutzen, um den Morgen zu feiern. Die Sonnenstrahlen, diese leuchtenden Leitlinien im Jetzt und Hier, sie mögen mir helfen, noch etwas Tiefe zu gewinnen.

Die passenden Worte formen sich zu einem Vers, nichts Besonderes und doch genau das, was es jetzt braucht. Meine Hände haben Lust, dabei mitzuspielen und den Worten Nachdruck zu verleihen.

SONNE –

WECKE MEINE AUGEN,  (mit den Fingerkuppen rund um die Augen sanft tupfen oder kreisen)

ÖFFNE MEINE OHREN,  (die Außenrändern der Ohren zupfen)

ENTSPANN MEINE SCHULTERN,  (Unterarme vor der Brust kreuzen, rechte Hand greift in die linke Schulter und umgekehrt, um den Schulterbereich zu massieren, dann die Oberarme hinuntermassieren, bis die Hände ineinandergreifen)

BRING ENERGIE IN MEINE HÄNDE   (Handinnenflächen kräftig aneinanderreiben)

UND LIEBE IN MEIN HERZ!  (Handinnenflächen übereinander vor den Herzraum legen).

Diese Fotos zeigen die dazupassenden Handbewegungen:

Sonne – wecke meine Augen,
öffne meine Ohren,
entspann meine Schultern,
bring Energie in meine Hände
und Liebe in mein Herz.

 

Ich merke, dieser Vers und die Handbewegungen helfen mir dabei, eine heilsame Ausrichtung zu entwickeln, unterstützt und belohnt durch die immer wieder spürbare Sonne.

Nach einigen Wiederholungen beende ich das Üben, werde still und spüre vor allem meine Augen, meine Schultern, meine Hände und mein Herz. Freude kommt auf. Über den Sinn des Lebens, der sich immer wieder zeigt. Über die guten Vorsätze, die sich, gut ausgeschlafen und entspannt, sogar körperlich nachvollziehen lassen: Meine Augen wollen freundlich sehen, auch wenn mich etwas irritiert, meine Ohren wollen zuhören, auch wenn Ungeduld aufkommt, meine Hände wollen zupacken und sich nicht drücken und die Schultern versprechen mir, auf mich aufzupassen, wenn Überforderung drohen sollte. **

Wenn ich unruhig werde und merke, dass ich den Fokus verlieren, beginne ich von neuem – mit dem Vers und den Handbewegungen. Irgendwann höre ich meinen Lebensgefährte in der Küche – Geschirr klappert, Kaffeeduft zieht durch den Türspalt ins Wohnzimmer. Es wird Zeit in den Tag zu starten.

 


Erläuterung

 

* zum Begriff dharana

Unter dharana wird die Fähigkeit verstanden, unseren Geist klar auszurichten. Traditionell wird dieser Schritt mit einem Pranayama vorbereitet, das den Atem verlängert und verfeinert. Sriram* schreibt (vgl. YS 2.52) auch von stillem Atem, der die Trübungen des Fühlens und Denkens verringert und so (vgl. YS 2.53) zur Meditation befähigt.

** zum Begriff pratyahara

In Yoga Sutra 2.54 wird die fünfte Stufe aus dem achtfachen Yogapfad beschrieben, nach yama, niyama, asana und pranayama folgt nun pratyahara, die Orientierung der Sinne nach innen. In dieser kleinen Morgenübung geht es neben Schultern, Händen und Herz auch um zwei wesentliche Sinnesorgane – Augen und Ohren. Wir bereiten sie für den Tag vor, schenken ihnen unsere Achtsamkeit, wissend, dass sie untertags leicht abgelenkt werden und dadurch unseren Geist schnell zerstreuen. Bei Sriram* finde ich diese sehr erhellende Erläuterung des Sutras: „Wenn die Sinne nicht allzu leicht von äußeren Objekten gelenkt werden, werden sie gereinigt und das Innenleben gewinnt an Kraft.“

Das übe ich gerade jetzt, mich zu versenken mithilfe der heilsamen Energie der Sonne, und mithilfe meiner Hände, die Augen und Ohren zusätzlich von außen begreifen. Das sind zwar äußere Impulse, aber bewusste Inszenierungen, die meine Sinne anschirren, aber auch öffnen und von Nebensächlichkeiten reinigen sollen, vielleicht noch von Verstörungen der Nacht. Ich möchte meine Sinne rückzubinden an das, was mir wichtig ist: Gut durch den anbrechenden Tag zu kommen, in heilsamer Weise für mich selbst und für alle Lebewesen, denen ich begegnen werde. Werden die Sinnesorgane gereinigt, gewinnt unser Innenleben an Kraft, so schreibt es Sriram. Vertrauen wir darauf, dass diese Kraft des Innenlebens auch im Alltags durchschimmern kann und uns hilft, dem treu zu bleiben, was wir uns frühmorgens vorgenommen haben.

* R. Sriram: Yogasutra Patanjali, Eigenverlag 2003, inzwischen bei Theseus erhältlich.