5,5 pro Minute – die Glücksfrequenz des Atems

5,5 pro Minute – die Glücksfrequenz des Atems

Gerade eben ist mein Onlineyogakurs „Locke den Atem“ zu Ende gegangen. Ich habe mich darin mit einigen Themenfeldern beschäftigt, die der amerikanische Journalist James Nestor in seinem Buch „Breath – Atem: Neues Wissen über die vergessene Kunst des Atmens“ beackert hat. Gleich vorweg: Ich möchte das Buch wärmstens empfehlen, besonders Yogalehrenden. Es bringt so viele erhellende Argumente, warum eine verlangsamte Atmung sinnvoll ist und auch interessantes Hintergrundwissen für Übende der traditionellen Pranayamatechnik Nadi Shodhana. Yoga funktioniert, das erfahren wir immer wieder neu, auch ohne dass wir Ergebnisse aus der Hirnforschung studieren. Trotzdem ist es erfreulich z. B. zu wissen, dass es wirklich einen Unterschied macht, ob wir über das rechte oder das linke Nasenloch einatmen.

Ich möchte jetzt noch ein wenig über die letzte Stunde erzählen, die den kohärenten bzw. resonanten Atem zum Thema hatte.

James Nestor beschreibt in Kapitel 5 „Langsam“ zwei wissenschaftliche Studien[i]. Die erste wurde 2001 in Italien von Forschern der Universität Pavia durchgeführt. Freiwillige wurden mit Sensoren ausgestattet und sollten dann ein buddhistisches Mantra und das lateinische Original des Rosenkranzgebetes, den Zyklus des Ave Maria, rezitieren. Das verblüffende Ergebnis, so schreibt Nestor, war, dass der Atemrhythmus bei beiden Gebeten mit 5,5 (Erklärung: 1 = 1x ein- und ausatmen) pro Minute nahezu ident war. Außerdem ergaben sich durch die verlangsamte Atmung körperliche Verbesserungen wie eine Zunahme der Hirndurchblutung und eine maximale Kohärenz zwischen den Funktionen von Herz- und Blutkreislauf sowie jenen des Nervensystems.

James Nestor ist Journalist, u. a. für die New York Times. Er ist selbst kein Wissenschaftler, auch wenn er mit großer Leidenschaft und auch Humor seine Selbstversuche beschreibt. Sein Beitrag zum Thema liegt darin, dass er unterschiedlichste Menschen bzw. Atemexpert:innen befragte, Studien verglicht und Querverbindungen herstellte, die bislang nicht gezogen worden waren. Und immer wieder die Frage: Wieso wird der Atem als Instrument der Heilung auch dort vernachlässigt, wo eindeutige positive Verbesserungen zu studieren gewesen sind?

Zehn Jahre nach der Studie in Padua untersuchten Patricia Gerbarg und Richard Brown, ob eine verlangsamte Atmung Patienten:innen mit Angstzuständen und Depressionen helfen könne. Sie probierten verschiedene Atemmuster aus und kamen zum selben Schluss wie die Forscher in Pavia. Nestor schreibt:[ii] „Der wirksamste Atemrhythmus trat auf, wenn sowohl die Länge der Atemphasen wie die Zahl der Atemzüge pro Minute einen seltsamen Gleichklang erreichten: 5,5 Sekunden Einatmen gefolgt von 5,5 Sekunden Ausatmen ergeben fast genau 5,5 Atemzüge pro Minute, dasselbe Atemmuster wie im Rosenkranzgebet.“

Faszinierend, oder? Ich wollte das natürlich gleich ausprobieren. Ich habe meine Atmung sitzend am Polster in einer meditativen Gestimmtheit nach Asanapraxis gestoppt und kam auch auf diese Zahl, allerdings habe ich nicht die Länge der einzelnen Atemzüge gestoppt, sondern nur die Gesamtzahl. Dann habe ich es anderntags zu Übungsbeginn probiert, mit einer einfachen, langsamen und dynamischen Variante von utkatasana[iii]. Auch da kam ich auf rund 6 Atemzüge pro Minute.

Diese Woche erzählte ich meinen Teilnehmerinnen davon und wir haben mit diesem Flow gleich einen Selbstversuch gestartet. Ich ließ sie nach einigen Übungen, die den Atem locken sollten, diese Utkatasana-Abfolge mehrmals wiederholen, wobei die Übenden auf die Koordination von Atem und Bewegung achten sollten. Der Atem solle ganz bewusst die Bewegung führen. Danach verweilten wir mit den Händen auf dem Unterbauch, um die vertiefte Atmung wahrzunehmen. Dann übten wir die Abfolge nochmals und ich stoppte genau 1 Minute. Ich hatte das Gefühl, die Yoginis waren über das Ergebnis verblüfft. Eine Person war sogar noch langsamer als 5,5, die anderen waren bei 6 oder 7. Sie waren jedenfalls weit entfernt von einer Alltagsatemfrequenz. Die liegt nämlich zwischen 10 bis 20 Atemzügen pro Minute. Die Eigenwahrnehmung hatte uns also ein ziemliches Schnippchen geschlagen.

Fazit: Durch Alltagsstress ermüdete, aber aus klinischer Sicht gesunde Yogaübende können sogar schon am Anfang der Yogastunde in einen heilsamen Atemrhythmus kommen. Ich finde das sehr ermutigend.

James Nestor schreibt[iv]: „Das Gebet heilt, besonders wenn man mit 5,5 Atemzügen pro Minute betet.“ Auf die Yogapraxis abgewandelt würde das bedeuten: Yoga heilt, besonders wenn man mit 5,5, Atemzügen pro Minute übt.

 

[i] James Nestor: „Breath. Atem. Neues Wissen über die vergessene Kunst des Atmens“, Piper Verlag, 2020, Seite 109

[ii] Nestor, a.a.o, Seite 110

[iii] Utkatasana dynamisch: EA: Tadasana, Hände vor die Brust gefaltet – AA: Arme zur Seite breiten und Knie beugen – EA: Hände über die Seite nach oben führen, Handinnenflächen finden am Ende zusammen – AA: die gefalteten Hände führen vor die Brust zurückführen, Knie wieder durchstrecken

[iv] Nestor, a.a.o, Seite 111