Wie können Yogalehrende soziale Verantwortung leben? (dt, frz)

Der französische Berufsverband Fédération Inter-enseignements de Hatha-Yoga (FIDHY) fragte bei mir um einen Artikel für seine Mitgliederzeitung an. Das Thema sollte sich um die soziale Verantwortung von Yogalehrenden drehen. Eine Aufgabe, der ich gerne nachkam, weil ich es vor allem wichtig finde, dass wir auch mit unseren Texten, also unserer Überlegungen zu Yoga heute, die innereuropäischen Sprachbarrieren überwinden und in einen Diskurs kommen. Eine Barriere zu überwinden, hat für mich auch etwas von Transzendenz. Und Sprachbarrieren gibt es in Europa sehr viele. Insofern wäre sehr viel zu tun…

Der Text wurde in französischer Übersetzung in der Ausgabe „FIDHY Infos N°92“ veröffentlicht:

FIDHY_info_N92_responsabilité-sociale

und soll auch auf der neuen Website der EYU erscheinen, dort dann in Englisch. Hier gibt es ihn auf Deutsch nachzulesen:

 

Wie können Yogalehrende soziale Verantwortung leben?

 

YAMA UND NIYAMA ALS PÄDAGOGISCHE BAUSTEINE

Yoga zu unterrichten ist ein wunderbarer Beruf. Denn die Dienstleistung, die wir verkaufen oder gegen Spende zur Verfügung stellen, ist hochwirksam. Schon 90 Minuten Asanapraxis bewirken, dass Leute, die müde und überarbeitet, vielleicht mit schmerzendem Rücken, gekommen sind, das Studio heiter gestimmt und wesentlich entspannter verlassen. Es ist wohl diese besondere Kombination von Aktivität und Aufdehnung gepaart mit hinspürendem Rückzug, die diese rasche Ausgeglichenheit bewirkt. Insofern haben wir Yogalehrende einen Beruf mit hoher sozialer Verantwortung, denn nichts braucht unsere überreizte Gesellschaft dringender als Entspannung und dafür stellen wir Raum, Zeit und Know-How zur Verfügung.

Während Asanapraxis sehr populär und medienpräsent ist, führen die moralischen Verhaltensempfehlungen, Yama und Niyama, ein Schattendasein. Dies obwohl sie die erste und zweite Stufe des „Achtfachen Pfades“ bilden, also die Grundlage des Übungsweges sind. Beginnt Yogapraxis also eigentlich in einer sozialen Begegnung und nicht mit einer schönen Körperpose? Natürlich wird über Ethik gesprochen und geschrieben, aber wird sie dadurch auch zu lebendiger Tradition? Gerade in den krisenhaften Tagen, die wir erleben, wäre es sinnvoll, Menschen moralisch zu bestärken und nicht nur die Bandscheiben, sondern auch unser Denken und unsere Einstellungen zu existenziellen Menschheitsfragen zu festigen.

Mit den Yama- und Niyama-Prinzipien steht uns ein übersichtlicher und verständlicher moralischer Baukasten zur Verfügung: 5 Yama-Prinzipien für ein proaktives Zusammenleben und 5 Niyama-Prinzipien für Selbstbestärkung und spirituelle Weiterentwicklung. Beide Stoßrichtungen verschränken sich ineinander und verstärken sich. Soziales Engagement braucht kompetente Selbstwahrnehmung. Für eine gute Sache öffentlich einzustehen braucht wiederum fundierte Überzeugung, wiewohl auch eine gute Portion Gleichmut.

Ich versuche, die Yama- und Niyama-Prinzipien zeitgemäß auszulegen. Denn Moral, die unverständlich ist, halte ich für nutzlos, wie ein Medikament, dessen Beipacktext ich nicht verstehe. Ich versuche daher ohne religiös konnotierte Begriffe auszukommen. Ethik ist für mich die Basis jeder spirituellen Praxis, ob es sich um ein religiöses Glaubensmodell oder um eine Erfahrungswissenschaft wie den Yoga handelt. Diese Basis soll die Essenz von allem sein. Das, was uns alle verbindet. Überdies leben immer mehr Menschen ohne Konfession, und auch sie müssen täglich moralische Entscheidungen treffen. 2017 waren es in Österreich schon 17% der Bevölkerung. [1]

Den Begriff Asteya (Nicht-Stehlen) habe ich in meinem Buch[2] am weitesten ausgelegt – auf den Diebstahl von Rechten aller Art, nicht nur von Eigentumsrechten. Sind nicht auch das Recht auf ein gutes Leben, das Recht auf Bildung oder auf einen unversehrten Körper Rechte, wie sie u. a. in den Menschenrechten niedergeschrieben sind, existentiell bedeutsam, vielleicht sogar wichtiger als das Recht auf Hab und Gut? Und was bedeutet Asteya angesichts einer extrem ungerechten globalen Einkommensverteilung überhaupt?

 

DIE KONKRETE ÜBUNG

Wie kann ich nun Yama und Niyama üben? Während die Niyama-Prinzipien in die regelmäßige Körperpraxis einfließen können, sind es vor allem die Yama-Prinzipien, die oft abstrakt bleiben. Es braucht also ein säkulares Denk- bzw. Übungskonstrukt. Ich habe dafür zwei Möglichkeiten entwickelt:

Der Moralitätscheck

Der Soziologe Emile Durkheim hielt 1902/03 an der Sorbonne eine Vorlesung über die Kriterien von Moralität. Er suchte eine säkulare Erklärung dafür, woran moralisches Handeln zu messen sei und lieferte 3 Begriffe: Freiwilligkeit, Verzicht und Verbundenheit. Ich nehme diese Begriffe und mache sie zu Eckpfeilern meines Übungsfelds. Die Zukunftsorientiertheit nehme ich als vierten Pfosten dazu. Ich habe jedes Yama (Gewaltfreiheit, Wahrhaftigkeit, Respekt vor den Rechten anderer, gemäßigter Lebenswandel und das Nicht­­horten) testweise in dieses imaginäre Übungsfeld gestellt. Der Versuch hat gut funktioniert, mein Denken hat sich an diesen Kriterien geschärft. Probieren Sie es aus! Sie könnten auch nur eine Frage, die Sie beschäftigt, reflektieren, z. B. macht es Sinn, mich gegen die Zerstörung des Regenwaldes einsetzen (ahimsa) – wie steht es mit meiner Freiwilligkeit, worauf muss ich verzichten, wofür tue ich das und wäre dies ein zukunftsfähiger Beitrag? Das Durchdenken geschieht am besten schriftlich, dann wird unser Auftrag klarer und tote Winkel unseres Denkens lassen sich leichter entdecken.

Wendepunkt Bhavana

Als zweite Denkaufgabe, die sich auch gut für eine kleine Schreibarbeit eignet, empfehle ich, das eigene Alltagsverhalten zu überprüfen und herauszufinden, ob mithilfe eines Bhavana (YS 1.33: Maitri, Karuna, Mudita, Upeksha) eine heilsame Wendung im konkreten Fall möglich war oder in Zukunft möglich sein könnte. Wenn wir etwas vorher verschriftlichen, kann es leichter später wieder abgerufen werden. Ich habe es probiert und jedem der fünf Yama-Prinzipien vier Bhavana-Haltungen dazugestellt und so insgesamt 20 x alte Erlebnisse oder gerade eben Passiertes durchgedacht. Es ging nicht darum, mich selbst zu geißeln oder als moralische Vorzeigeschülerin zu brillieren, nein: ich bemühe mich um radikale Authentizität und um das Hinspüren zur moralischen Wendung in jeder Begegnung, z. B. was half mir in jener schwierigen Begegnung, mich in Ahimsa zu verwurzeln? Meine Beispiele sind im Naheliegenden zu finden, im Banalen, wobei was ist schon banal? Die großen Lösungen für Kriege, Naturkatastrophen, Hunger und Verelendung überfordern uns. Beginnen wir im Kleinen zu üben, können wir mit den Herausforderungen wachsen. Auch das können Yogalehrenden vermitteln, dazu können wir ermutigen.

EINE VISION AN DIE ÖFFENTLICHKEIT BRINGEN

Kommt der Yoga in den Alltag, sind die Beispiele so vielfältig wie unsere Leben eben sind. Darum sind diese Projekte auch nur Beispiele und keine Kopiervorlagen für ein typisches Engagement von Yogalehrenden. Jede/r muss selbst herausfinden, wofür es sich mit ganzem Herzen einzustehen lohnt.

  1. Ich engagiere mich seit 2021 bei Yoga for Future, eine Initiative der Yogelehrenden Gudrun Komrey und Hardy Fürch. Wir treffen uns regelmäßig per Zoom und fragen uns, wie wir als Yogalehrende soziale Verantwortung zeigen könnten. Mit dabei ist Nico Raabe, eine Münchner Yogalehrerin, die die Initiative „Wir bleiben am Boden – Yoginis für Flugverzicht“ gestartet hat. Diese Idee halte ich für zutiefst sinnvoll. Es ist ein wunderbares Beispiel für ein Gründen in Yama (Ahimsa: Wieviel tonnenschwere Zerstörung in Form von CO2 wird durch Flüge auf die Umwelt ausgestoßen? Satya: Wieviel Kostenwahrheit steckt in den Preisen? Brahmacharya: Welchen Lebenswandel führen wir, ist das gemäßigt?) Der moderne, westliche Yoga wirbt mit Flugreisen zu Ausbildungen, Retreats und Yogaurlauben. Wieviel Tonnen CO2 sind meine Entspannung am anderen Ende der Welt wert? Wichtig ist aber: Es geht um einen freiwilligen Verzicht, nicht um ein Flugverbot! Erinnern wir uns an Durkheims Kriterium „Freiwilligkeit“. Jede/r darf sich seiner Eigenverantwortung bewusstwerden.
  2. Ich engagiere mich für geflüchtete Menschen, wir führen in unsere Heimatstadt ein offenen Begegnungshaus und daher gehe ich gelegentlich auch zu Demonstrationen in Wien mit. Es fällt mir ehrlich gesagt schwer, das Lautstarke liegt mir nicht und ich fühlte mich oft verloren zwischen den Gruppen und ihren Transparenten. Das änderte sich, als ich einen Zettel hochhielt und auf meinen Rucksack heftete, auf dem stand: „Bleiben wir bei der Wahrheit. Yoga Sutra 2.36. Afghanistan ist nicht sicher. Rückkehrern und Abgeschobenen droht der Tod.“ Als Yogini in Satya zu gehen – hier hatte ich mich plötzlich gefunden und geerdet. Die Moral des Yoga half mir, für etwas einzustehen und mitzumarschieren.
  3. Warum unterrichte ich so gerne Menschen, die in Österreich auf ein faires Asylverfahren warten und keinen Deutschkurs zugeteilt bekommen? Es ist wohl Asteya und die Überzeugung, dass für Yoginis der Respekt vor den Rechten anderer zu den existenziellen, moralischen Wurzeln zählt. Ich selbst führe ein glückliches Leben in Wohlhabenheit, anderen wird es vorenthalten. Diese Ungerechtigkeit kann man spüren wollen oder sie aber verdrängen. Meine Wirkkraft ist begrenzt, aber ich kann zumindest einmal in der Woche auf Augenhöhe mit ihnen sprechen, ihnen Wertschätzung und Respekt entgegenbringen und das eine oder andere vermitteln. Asteya macht mich sicher: Es ist von existentieller Bedeutung, dass wir uns gegenseitig respektvoll begegnen. Berauben wir andere ihrer Würde, entwürdigen wir uns selbst.

 

ERREICHEN WIR JENE, DIE YOGA AM DRINGENDSTEN BENÖTIGEN?

Hatha-Yogapraxis wirkt und auch die Yoga-Ethik kann eine gute Entscheidungshilfe im Alltag sein. Schade nur, dass wir Yogalehrende nicht so viele Menschen erreichen, wie es Bedürftige gibt. Dies obwohl der Yoga im Westen boomt. Warum ist das so?

Der westliche Yoga ist vor allem weiblich, aber auch Männer bräuchten Entspannung und nicht nur leistungsorientierte Sportarten, auch ihnen würde eine hinspürende Methode zu Körper und Atem und zu moralischen Fragen guttun. Insofern braucht es mehr junge Männer, die diesen Beruf als ihre soziale Verantwortung erkennen und Körperpraxis, aber auch Ethik vermitteln möchten.

Auch Menschen, die finanziell und sozial benachteiligt sind, kommen selten zum Yoga, denn dieser wird oft als urbaner Mittelschicht-Lifestyle wahrgenommen. Nicht nur der Kurs, auch Utensilien, Klamotten und Urlaube, scheinbare must-haves, kosten Geld. Wer mit der Heizung oder gar mit dem Lebensmitteleinkauf sparen muss, verzichtet wohl darauf, sich entspannen zu lassen. Das ist fatal, denn gerade Armut stresst, Existenzängste laugen aus. Auch geflüchtete Menschen sind dankbar für solche Angebote. Ich habe unlängst eine Stunde für Ukrainerinnen gehalten. Es ging erstaunlich gut, auch ohne viele Worte.

Yogalehrende, die soziale Verantwortung übernehmen möchten, könnten hier ansetzen – Zugang zu unterpriveligierten Gruppen finden und niederschwellige Angebote entwickeln, entweder ehrenamtlich oder mit neuen, kreativen Sponsoringkonzepten. Ein möglicher erster Schritt wäre, Kontakt mit sozialen Betreuungsstellen aufzunehmen.

Ich hoffe, ich konnte Ihnen ein paar Anregungen geben. Ich freue mich auch, über Ihre Impulse zu lesen. Sie können mir schreiben unter: kontakt@vyana.at

[1] Quelle: www.diepresse.com/5264108/religion-in-oesterreich-mehr-konfessionslose-mehr-muslime, 20.8.2022

[2] Alexandra Eichenauer-Knoll: „Yoga und soziale Verantwortung. Sich gründen im Außen und Innen mit Yama und Niyama“, Windpferd Verlag, 2022, ISBN 978-3-86410-352-0