Wie können Yogalehrende soziale Verantwortung leben?

Wie können Yogalehrende soziale Verantwortung leben?

Ich habe für den französischen Verband Fédération Inter-enseignements de Hatha-Yoga (FIDHY) einen Text zu diesem Titel geschrieben. („FIDHY Infos N°92“). Für diesen Blogbeitrag habe ich den Artikel etwas gekürzt und mich auf das Thema, wie man Haltung an die Öffentlichkeit bringen könnte, fokussiert.

YAMA UND NIYAMA ALS PÄDAGOGISCHE BAUSTEINE

Yoga zu unterrichten ist ein wunderbarer Beruf. Denn die Dienstleistung, die wir verkaufen oder gegen Spende zur Verfügung stellen, ist hochwirksam. Schon 90 Minuten Asanapraxis bewirken, dass Leute, die müde und überarbeitet, vielleicht mit schmerzendem Rücken, gekommen sind, das Studio heiter gestimmt und wesentlich entspannter verlassen. Es ist wohl diese besondere Kombination von Aktivität und Aufdehnung gepaart mit hinspürendem Rückzug, die diese rasche Ausgeglichenheit bewirkt. Insofern haben wir Yogalehrende einen Beruf mit hoher sozialer Verantwortung, denn nichts braucht unsere überreizte Gesellschaft dringender als Entspannung und dafür stellen wir Raum, Zeit und Know-How zur Verfügung.

Während Asanapraxis sehr populär und medienpräsent ist, führen die moralischen Verhaltensempfehlungen, Yama und Niyama, ein Schattendasein. Dies obwohl sie die erste und zweite Stufe des „Achtfachen Pfades“ bilden, also die Grundlage des Übungsweges sind. Beginnt Yogapraxis also eigentlich in einer sozialen Begegnung und nicht mit einer schönen Körperpose? Natürlich wird über Ethik gesprochen und geschrieben, aber wird sie dadurch auch zu lebendiger Tradition? Gerade in den krisenhaften Tagen, die wir erleben, wäre es sinnvoll, Menschen moralisch zu bestärken und nicht nur die Bandscheiben, sondern auch unser Denken und unsere Einstellungen zu existenziellen Menschheitsfragen zu festigen.

Mit den Yama- und Niyama-Prinzipien steht uns ein übersichtlicher und verständlicher moralischer Baukasten zur Verfügung: 5 Yama-Prinzipien für ein proaktives Zusammenleben und 5 Niyama-Prinzipien für Selbstbestärkung und spirituelle Weiterentwicklung. Beide Stoßrichtungen verschränken sich ineinander und verstärken sich. Soziales Engagement braucht kompetente Selbstwahrnehmung. Für eine gute Sache öffentlich einzustehen braucht wiederum fundierte Überzeugung, wiewohl auch eine gute Portion Gleichmut.

Ich versuche, die Yama- und Niyama-Prinzipien zeitgemäß auszulegen. Denn Moral, die unverständlich ist, halte ich für nutzlos, wie ein Medikament, dessen Beipacktext ich nicht verstehe. Ich versuche daher ohne religiös konnotierte Begriffe auszukommen. Ethik ist für mich die Basis jeder spirituellen Praxis, ob es sich um ein religiöses Glaubensmodell oder um eine Erfahrungswissenschaft wie den Yoga handelt. Diese Basis soll die Essenz von allem sein. Das, was uns alle verbindet. Überdies leben immer mehr Menschen ohne Konfession, und auch sie müssen täglich moralische Entscheidungen treffen. 2017 waren es in Österreich schon 17% der Bevölkerung. [i]

Den Begriff Asteya (Nicht-Stehlen) habe ich in meinem Buch[ii] am weitesten ausgelegt – auf den Diebstahl von Rechten aller Art, nicht nur von Eigentumsrechten. Sind nicht auch das Recht auf ein gutes Leben, das Recht auf Bildung oder auf einen unversehrten Körper Rechte, die existentiell bedeutsam sind, vielleicht sogar wichtiger als das Recht auf Hab und Gut? Und was bedeutet Asteya angesichts einer extrem ungerechten globalen Einkommensverteilung überhaupt?

EINE VISION AN DIE ÖFFENTLICHKEIT BRINGEN – SICH GRÜNDEN IN YAMA UND ETWAS BEGRÜNDEN MIT YAMA

Kommt der Yoga in den Alltag, sind die Beispiele so vielfältig wie unsere Leben eben sind. Darum sind diese Projekte auch nur Beispiele und keine Kopiervorlagen für ein typisches Engagement von Yogalehrenden. Jede/r muss selbst herausfinden, wofür es sich mit ganzem Herzen einzustehen lohnt und vor allem in welchem Yama er/sie sich solide gründen möchte

AHIMSA, SAYTA UND BRAHMACHARYA
Ich engagiere mich seit 2021 bei Yoga for Future, eine Initiative der Yogelehrenden Gudrun Komrey und Hardy Fürch. Wir treffen uns regelmäßig per Zoom und fragen uns, wie wir als Yogalehrende soziale Verantwortung zeigen könnten. Mit dabei ist Nico Raabe, eine Münchner Yogalehrerin, die die Initiative „Wir bleiben am Boden – Yoginis für Flugverzicht“ gestartet hat. Diese Idee halte ich für zutiefst sinnvoll. Es ist ein wunderbares Beispiel für ein Gründen in Yama (Ahimsa: Wieviel tonnenschwere Zerstörung in Form von CO2 wird durch Flüge auf die Umwelt ausgestoßen? Satya: Wieviel Kostenwahrheit steckt in den Preisen? Brahmacharya: Welchen Lebenswandel führen wir, ist das gemäßigt?) Der moderne, westliche Yoga wirbt mit Flugreisen zu Ausbildungen, Retreats und Yogaurlauben. Wieviel Tonnen CO2 sind meine Entspannung am anderen Ende der Welt wert? Wichtig ist aber: Es geht um einen freiwilligen Verzicht, nicht um ein Flugverbot! Erinnern wir uns an Durkheims Kriterium „Freiwilligkeit“. Jede/r darf sich seiner Eigenverantwortung bewusstwerden.

SATYA
Ich begleite seit 2013 geflüchtete Menschen, seit 2016 führen wir in unsere Heimatstadt ein offenen Begegnungshaus. Aus Unzufriedenheit über die diskriminierende und respektlose Art, vor allem von Seiten der politisch Verantwortlichen, aber auch aus Verzweiflung über unzumutbare Verschärfungen von Verordnungen gehe ich gelegentlich auch zu Demonstrationen mit. Es fällt mir ehrlich gesagt schwer. Das Lautstarke liegt mir nicht und ich fühlte mich oft verloren zwischen den Gruppen und ihren Transparenten. Das änderte sich, als ich einen Zetteln – nicht größer als ein A4-Blatt – hochhielt und auf meinen Rucksack heftete, auf dem stand: „Bleiben wir bei der Wahrheit. Yoga Sutra 2.36. Afghanistan ist nicht sicher. Rückkehrern und Abgeschobenen droht der Tod.“ Als Yogini in Satya zu gehen – hier hatte ich mich plötzlich gefunden und geerdet. Die Moral des Yoga half mir, für etwas einzustehen und mitzumarschieren.

ASTEYA
Warum unterrichte ich so gerne Menschen, die in Österreich auf ein faires Asylverfahren warten und keinen Deutschkurs zugeteilt bekommen? Es ist wohl Asteya und die Überzeugung, dass für Yoginis der Respekt vor den Rechten anderer zu den existenziellen, moralischen Wurzeln zählt. Ich selbst führe ein glückliches Leben in Wohlhabenheit, anderen wird es vorenthalten. Diese Ungerechtigkeit kann man spüren wollen oder sie aber verdrängen. Meine Wirkkraft ist begrenzt, aber ich kann zumindest einmal in der Woche auf Augenhöhe mit ihnen sprechen, ihnen Wertschätzung und Respekt entgegenbringen und das eine oder andere vermitteln. Asteya macht mich sicher: Es ist von existentieller Bedeutung, dass wir uns gegenseitig respektvoll begegnen. Berauben wir andere ihrer Würde, entwürdigen wir uns selbst.

[i] Quelle: www.diepresse.com/5264108/religion-in-oesterreich-mehr-konfessionslose-mehr-muslime, 20.8.2022

[ii] Alexandra Eichenauer-Knoll: „Yoga und soziale Verantwortung. Sich gründen im Außen und Innen mit Yama und Niyama“, Windpferd Verlag, 2022, ISBN 978-3-86410-352-0

Titelbild: Umbrellamarch der Asylkoordination Österreich, 24.6.2021, Foto: Witzmann