Konsequent gelebte Gewaltfreiheit
Dieser Text erschien in der Zeitschrift von Yoga Austria und ist meiner Masterarbeit entnommen: „Was macht es schon, wenn man uns für Träumer hält? Gandhis Ethik als Leitfaden durch ein prozessorientiertes, tiefenökologisches Seminar.“ Eingereicht im Universitätslehrgang „Spirituelle Begleitung in der globalisierten Gesellschaft“ am Zentrum für Religion und Globalisierung der Donau-Universität Krems, 2016.
Konsequent gelebte Gewaltfreiheit
Am 4. Dezember 2016 werden die wahlberechtigen ÖsterreicherInnen im dritten Wahlgang einen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten bestimmen. Egal wie diese Wahl ausgeht, sie hat eine offensichtliche Polarisierung der Gesellschaft gebracht, die sich auch in einer radikalisierten Sprache ausdrückt. Besonders verstörende Zeichen dieser Entwicklung sind Hasspostings auf Internetforen, die bis zu Morddrohungen reichen. Als Yogalehrende sind wir wahrscheinlich nicht solchen Anfeindungen ausgesetzt, aber wenn wir uns politisch, journalistisch oder sozial engagieren, können auch wir ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Vielleicht haben wir ja auch Bekannte oder SchülerInnen, die Anfeindungen ausgesetzt sind. Was raten wir ihnen im Sinne des Yoga? Wie sollen sie sich verhalten? Selbstverständlich gilt es, auf die eigene persönliche Sicherheit zu achten. Aber macht es Sinn, Aggression mit ebensolcher zu parieren und “zurückzuschlagen“?
In den Yogasutren ist ahimsa die oberste ethische Grundregel in der Kategorie der yamas. Diese ethischen Regeln definieren unsere Haltung gegenüber der Umwelt. Was aber tun, wenn andere immer unverschämter moralische Grenzen missachten? Mein kluger iphone-Kalender hat für den Wahlsonntag neben dem Urnengang auch einen Geburtstag notiert: Mahatma Gandhi, 2. Oktober 1869, Porbandar, Indien. Gandhi ist mein politisches Vorbild. Er hat immer versucht, in Kontakt und im Gespräch mit seinen Gegnern zu bleiben und hat in Auseinandersetzungen bewusst auf Gewalt verzichtet. Was hat ihn in seiner Vorgangsweise so bestärkt? Für Mahatma Gandhi ist ahimsa ein zentraler ethischer Grundwert, der zudem auch Teil seiner religiösen Praxis war und – so denke ich – ihm auch als spirituelle Einsicht erfahrbar geworden ist.
Gewaltfreiheit als Seelenkraft Gottes
Für Mahatma Gandhi ist ahimsa „ein […] aktives Prinzip höchster Ordnung. Sie ist Seelenkraft oder die Kraft der Gottheit in uns.“[1] Wie kann man das verstehen? Verzichten wir auf Gewalt in jeder Form, wirkt Gott durch uns; handeln wir gewalttätig, kriegerisch, unachtsam, entfernen wir uns wiederum von Gott. Ein Krieg kann also entsprechend dieser Definition niemals als „heilig“ bezeichnet werden. In der Übersetzung der Gandhi-Texte wird ahimsa mit Gewaltfreiheit (statt Gewaltlosigkeit) übersetzt. Das Wort „Freiheit“ vermittelt noch viel besser die aktive und befreiende Dimension der Gewaltlosigkeit und ihre Wirknähe zu großer Freude, Verbundenheit und Verbrüderung.
Gotteskraft ist stark und Gewaltfreiheit ist pure Gotteskraft. Gandhi folgert daraus, dass schon ein winziger Bruchteil davon Wunder wirken kann. „Genauso wirkt selbst ein winziges Körnchen wahrer Gewaltfreiheit in einer stillen, feinen und unsichtbaren Weise und durch-dringt die ganze Gesellschaft. Es ist selbsttätig.“[2] War Gandhi naiv? Menschen, die nur an die Macht des Stärkeren, die Macht der Waffen, die Macht des Geldes oder an die Macht brachialer Wortgewalt gewöhnt sind, würden das vielleicht bejahen.
Gewaltfreiheit als heilsamer Prozess
Liest man die Yogasutren, wird Gandhis Denken schon viel verständlicher: „ahimsa-pratisthayam tat-samnidhau vaira-tyagah“ (YS 2.35)[3] T.K.V. Desikachar übersetzt das Sutra so: „Je behutsamer ein Mensch handelt, desto mehr werden andere Menschen in seiner Gegenwart liebevolle Gefühle empfinden.“[4] In der Übersetzung von Bettina Bäumer steht weniger die Handlung, als vielmehr ein raumbildendes „Im-Frieden-Sein“ im Vordergrund. „Wenn man in der Gewaltlosigkeit fest gegründet ist, (schafft man eine Atmosphäre des Friedens, und) alle, die in die Nähe kommen, geben die Feindschaft auf.“[5]
Auf den Alltag umgesetzt, lässt sich die Haltung ahimsa in vielen Details üben: konsequent ruhig und gleichmütig bleiben, sich nicht provozieren lassen, verständnisvoll bleiben für den Gegner, aber auch: anderen nicht zu viele Worte und Ideen aufdrängen, Ruhe statt Hektik und Stress vermitteln, die Grenzen der anderen erkennen und respektieren, achtsam bleiben etc. Als Yogalehrende versucht man, körperlich und mental ein Gefühl von tiefem Frieden zu vermitteln. Ziel des Übens ist es, in Alltagshandlungen Muster subtiler Gewalt zu erkennen und ihnen gegenzusteuern, bei sich selbst und bei anderen.
Ahimsa kann daher als ein Prozess verstanden werden, als ein stetes Üben, gleichwie als ein heilsamer Zustand, der beständig aktiv bewahrt werden muss.
Gewaltfreiheit als Ausdruck tiefer Verbundenheit
Für Gandhi basiert die Motivation, sich in Gewaltfreiheit zu üben, in der Grunderfahrung einer tiefen Verbundenheit, „[…] und der Name für diese Kraft, die die Lebewesen zusammenhält, ist Liebe,“ erklärte Gandhi in einer Rede vor Textilarbeitern im Jahre 1920.[6] Ahisma, die Gewaltfreiheit, wurzelt also in einer Erfahrung von Liebe und Verbundenheit.
Umgekehrt lässt sich folgern: Wer diese verbindende Erfahrung der Liebe nicht spürt, vielleicht nie erlebt hat oder bewusst negiert und Trennung und Ausgrenzung fördert, begibt sich auf einen Weg der Gewalt, des Hasses und der Zerstörung.
Gandhi hatte erkannt, dass man aus der Spirale von Gewalt, Hass, Rache und Vergeltung nur ausbrechen kann, wenn man konsequent im Frieden bleibt und Rachegefühlen keine Nahrung mehr gibt:
„Es ist die natürliche Bestimmung des Menschen, auf Rache zu verzichten. Und ungeachtet unserer menschlichen Gestalt sind wir solange nicht wirklich menschlich, wie wir die Wahrheit dieses Gesetzes nicht in ihrer ganzen Bedeutung erkannt haben und danach handeln. Es gestattet keine Ausflucht.“ [7]
Alexandra Eichenauer-Knoll
[1] Mohandas Karamchand Gandhi: Die Stimme der Wahrheit (Werke 4). Göttingen: Wallstein, 2011, 118
[2] Gandhi: Die Stimme der Wahrheit, a.a.O., 118
[3] Bettina Bäumer (Hg): Patanjali. Die Wurzeln des Yoga. Roßdorf: O.W Barth, 2003, 120
[4] T.K.V. Desikachar: Über Freiheit und Meditation. Das Yoga Sutra des Patanjali. Petersberg: Vianova, 2003, 84
[5] Bäumer (Hg): Patanjali. Die Wurzeln des Yoga, a.a.O., 120
[6] Gandhi: Die Stimme der Wahrheit, a.a.O., 112
[7] Gandhi: Die Stimme der Wahrheit, a.a.O., 115