Ein Plädoyer für das kritische Bewusstsein
Aufgrund von Missbrauchsvorwürfen gegen ein u.a. in Österreich ansässiges Yogastudio bzw. gegen einzelne seiner Lehrer wurde Yoga Austria gebeten, zu diesem Thema prinzipiell Stellung zu nehmen. Ich war damals noch im Vorstand von Yoga Austria und habe mich der Sache angenommen. Der Text wurde auf der Website www.yoga.at veröffentlicht.
Ein Plädoyer für das kritische Bewusstsein
Prinzipiell heißt nach den Prinzipien zu forschen, auf denen ein guter Yogaunterricht basiert.
Das Thema lenkt mich als Schreibende zurück auf die ethischen Grundsätze, die unser Handeln als Yogalehrende bestimmen sollten. Für alle, die sich noch nie damit beschäftigt haben, sei ein Ausflug auf die entsprechende Website von Yoga Austria zu empfehlen. Dort steht unter Ethik beim Punkt »Verhalten« zu lesen:
Ein wesentliches Element des Yoga ist die Entwicklung von selbstverantwortlichem Handeln. In diesem Sinne sind sich Yogalehrende ihrer beruflichen Verpflichtung bewusst und gehen mit dem Vertrauen, das ihnen entgegengebracht wird, verantwortungsvoll um. Sie achten darauf, dass keine Abhängigkeiten entstehen und enthalten sich jeder psychischen, körperlichen, sozialen und materiellen Ausnutzung.
Der Ausdruck körperlicher Ausnutzung ist weit gefasst, sexueller Missbrauch wird nicht explizit erwähnt und ist auch nur ein Aspekt davon. Körperliche Ausnutzung könnte auch bedeuten, dass ich Schüler/innen in für sie unheilsame Asanas hineinmanövriere oder sie zu schädlichem Ehrgeiz ermutige. Es könnte auch bedeuten, dass ich Atemanweisungen zu forciert gebe oder ihnen meine Atemmuster aufzwinge und verständnislos auf Einwände reagiere. Je feiner wir unsere Wahrnehmung darauf schulen, wo jene Grenze zwischen liebevoller Förderung einerseits und unheilsamer Manipulation andererseits überschritten wird, desto besser! Ich denke, wir Yogalehrenden müssen in dieser Hinsicht ehrlich und auch entsprechend streng und einsichtig sein. Schließlich soll die Yoga-Ethik durch unseren Unterricht durchschimmern – besonders die Qualitäten von satya und ahimsa, von Ehrlichkeit sowie Gewaltfreiheit.
Sexueller Missbrauch ist besonders übergriffig und bösartig. Schließlich sind Schüler/innen immer in einem Abhängigkeitsverhältnis gegenüber dem Lehrenden, vielleicht ihm/ihr sogar besonders vertrauensvoll, liebe- und respektvoll zugewandt. Es wird also nicht nur der Körper missbraucht, sondern auch das Vertrauen und die Offenheit, die sich durch Yoga in dem Schüler (in der Schülerin) bereits entwickelt haben.
Ich selbst ermutige meine Schüler/innen, immer wieder wachsam hinzuspüren, ob ihnen eine Anleitung von mir guttut oder nicht, sich zu melden, falls nicht, mich kritisch zu hinterfragen. Ich ermutige sie zu kritischem Denken, denn ich sehe dies als Voraussetzung für eigenständiges Üben, und last but not least ist es auch eine Übung für den Alltag.
Auch im Alltag wird Missbrauch betrieben, mit unserer Zeit, unserem Geld, unserem Vertrauen usw. Wir sind nicht sicher vor Manipulation, davor, dass wir in eine Richtung gepusht werden, um erst später zu merken, dass wir vor allem von anderen benutzt werden. Im Yoga üben wir das achtsame Hinspüren. Tut mir das gut? Wie fließt mein Atem, sagt mir meine Intuition, es ist ok, was da gerade passiert?
Gerade darum, weil uns Yogalehrenden diese Aspekte so wichtig sind, ist Missbrauch durch Yogalehrende besonders schäbig. Pfui! Und ich frage mich, wie ist denn sowas überhaupt möglich?
Katharina Ceming hat ein kurzweiliges und sehr aufschlussreiches Buch mit dem Titel „Spiritualität im 21. Jahrhundert“ geschrieben. Darin entlarvt sie einige Mythen und nimmt auch zu Missbrauch in der Spiritualitätsszene Stellung. Ich versuche abgeleitet von ihrem Text drei Grundannahmen aufzustellen.
Erstens: Menschliche Entwicklungsstränge laufen nicht immer parallel.
Gehen wir davon aus, dass unterschiedliche Entwicklungslinien im Menschen angelegt sind, die dann dessen Selbstverständnis und Handeln bestimmen, Zitat Ceming: „z. B. eine sprachliche, künstlerische, sozial-emotionale, kinästhetische, spirituelle, um nur einige zu nennen.“ Und weiter: „Es ist wichtig sich zu vergegenwärtigen, dass in den wenigsten Fällen eine völlig synchrone Entwicklung all dieser verschiedenen Entwicklungsstränge abläuft.“ (S. 18) Wer sich also nur um sein spirituelles Wachstum kümmert, läuft möglicherweise Gefahr, sein soziales Umfeld zu vernachlässigen oder unverständliche, egozentrische Handlungen setzen.
Zweitens: Das Wertesystem existiert unabhängig von der spirituellen Einsicht.
Die Tatsache, dass ein spiritueller Mensch nicht zwangsläufig ein besserer Mensch ist, hat auch mit der ihm/ihr zugrunde liegenden Wertebasis zu tun. Tiefe spirituelle Einsichten zu erleben, verändert nicht zwingend eine Weltsicht, die z. B. patriachalisch, hierarchisch, autoritär oder ethno-zentrisch ist (S. 25). Noch dazu, wenn sich der/die Lehrende in diesem System einen angesehenen Platz erarbeitet hat. Im 5. Kapitel des Buches zeigt Ceming zahlreiche Beispiele aus unterschiedlichen religiösen Traditionen auf, wo angesehene Meister sogar zu Kriegstreiberei und Hetze gegen andere Ethnien aufgerufen haben
Drittens: Unkritisches versus kritisches Bewusstsein gegenüber dem Meister
Traditionell wurde in den spirituellen Traditionen des Ostens die Autorität des Meister nicht hinterfragt. Ceming: „Der Schüler hatte in den Händen des Meisters so formbar wie flüssiges Wachs zu sein.“ Nun funktioniert dieses Denken Im Westen nicht mehr so unhinterfragt, auch der große Anteil an Frauen in der Szene verändert diesen Prozess. Ceming: „Leider sind sexuelle Fehltritte und Missbräuche auch in der modernen Spiritualitätsszene nicht ausgeschlossen. Was wohl damit zusammen-hängt, dass Meisterschaft vor Libido nicht schützt. Den eigenen Schatten meditiert man nicht weg, sondern man muss sich seiner bewusst werden.“ (S. 27) Sie hofft auf das kritische Bewusstsein der Schüler/innen: „Wenn ein kritisches Bewusstsein aufseiten der Schüler vorhanden ist, besteht die Möglichkeit, Nein zu sagen, wo klare Grenzen überschritten werden. Ein gesundes Ich dient ebenso im spirituellen Bereich dem Schutz vor Missbrauch jeder Art.“ (S. 38)
Insofern ist es unsere Aufgabe, das gesunde Ich der Schüler zu respektieren und zu stärken. Zum Schutz der Schüler/innen und zu unserem eigenen Schutz!
Alexandra Eichenauer-Knoll, Hainfeld, 19.1.2019